Katerini ist eine Kleinstadt im Norden Griechenlands, an der Ägäisküste 70 km südlich von Thessaloniki. 86.000 Einwohner, IC-Bahnhof, 2 Autobahnanschlüsse. Der Tourismus war bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Wikipedia listet als bekannteste Persönlichkeiten neben einem römischen Fabeldichter nur noch vier Fußball- und einen Handballspieler sowie eine Ruderin auf.
Seit 13 Jahren steht Katerini aber auch als Leuchtturmprojekt und Beispiel für eine aktive Bürgerschaft, die vernachlässigte und verloren gegangene Gemeinschaftseinrichtungen wieder belebt und in Gang hält.
Es fing an mit einer Brandschutzinitiative: 2007, nach verheerenden Waldbränden in Griechenland, taten sich einige Einwohner zusammen und berieten mit der örtlichen Feuerwehr ein Vorsorgeprogramm zum Schutz der umliegenden Wälder. Schnell wurde an übersichtlicher Stelle ein Hochsitz errichtet, wo seitdem Freiwillige der Bürgerbewegung „O Topos Moy“ unter dem Motto „Ich schenke dem Wald einen Tag meines Sommers“ in der heißen Jahreszeit in zwei Schichten Brandwache halten.
Aktivisten aus über 120 Familien der Region beteiligen sich seitdem an dieser Initiative, Waldbrände gab es in dieser Zeit nicht mehr. Denn neben der aktiven Mitwirkung hat diese Aktion auch das Bewusstsein der Bevölkerung zur Brandvermeidung geschärft und darüber hinaus zum Aufbau einer engagierten Zivilgesellschaft beigetragen.
Die so erwachte Motivation zur Eigeninitiative war bald darauf gefordert, als sich die Lebensverhältnisse im ganzen Land durch die griechische Finanzkrise dramatisch verschlechterten. Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg und Niedergang des Gesundheits- und Schulwesens waren die Folge.
Fortsetzung unten!
Der von O Topos Moy errichtete und betriebene Brandwachturm im Wald bei Katerini
Soziale Apotheke:
Aufgrund massiver Kürzungen im Gesundheitswesen haben verarmte Familien in Griechenland keine Möglichkeit mehr, sich wichtige Medikamente und benötigtes medizinisches Material zu leisten. Auch in den Krankenhäusern können die Heilmittel- und Medizinproduktbestände nicht ausreichend aufgefüllt werden, weshalb Patienten sogar von offizieller Seite dazu angehalten sind, ihre Arzneimittel und Verbandsmaterialien vor dem Krankenhausaufenthalt persönlich zu beschaffen und selbst zur Behandlung mitzubringen.
Um dieser Not zu begegnen, hat O Topos Moy eine Soziale Apotheke eingerichtet, die mit derzeit über 12.000 Arzneimitteln und einer Vielzahl diverser medizinischer Produkte ausgestattet ist. Hier wird das zum Großteil aus europaweiten Spenden zusammengetragene Material von Fachleuten geprüft, selektiert und in ein eigens dafür entwickeltes Datenbanksystem eingespeist. So können auch Interessenten wie Krankenhäuser oder Hilfswerke über eine Suchmaschine auf diesen Arzneimittelpool zugreifen und überprüfen, ob ein gewünschter Wirkstoff vorrätig ist. Die Endabgabe an die nachweislich Bedürftigen erfolgt dann durch Pharmazeuten vor Ort, sofern ein gültiges Rezept vorgewiesen werden kann.
Ihren Ursprung hat die soziale Apotheke als Unterabteilung der sozialmedizinischen Praxis, in der sich seit 2013 rund 130 Mediziner sowie Fachpersonal aller Fachrichtungen ehrenamtlich engagierten. Nachdem allerdings die Praxisgebühr, die etlichen Kranken den Gang zum Krankenhaus unmöglich gemacht hatte, wieder abgeschafft wurde, verlagerte sich der Fokus schließlich vollends auf das ehemalige Zweigprojekt. Dies umfasst heute inzwischen über 800 Einträge in seiner Personenkartei und hat insgesamt über 60.000 Medikamente ausgegeben.
Lebensmittel ohne Zwischenhändler:
In den Folgejahren der Krise erwirtschafteten Zwischenhändler und Supermärkte exorbitante Gewinnspannerhöhungen von bis zu 100 Prozent. O Topos Moy reagierte darauf mit der Initiative „Lebensmittel ohne Zwischenhändler“. Unter regem Interesse von in- und ausländischen Medien war dies die Initialzündung zur sogenannten „Kartoffelbewegung“, die mittlerweile in ganz Griechenland Nachahmer gefunden hat.
Die Produzenten verkaufen so ihre Waren ohne einen dazwischengeschalteten Mittelsmann direkt an den Endkonsumenten und erzielen damit einen höheren Preis, als Supermärkte bereit wären zu entrichten, während die Endverbraucher lediglich, zuzüglich Mehrwertsteuer, den echten und fairen Betrag bezahlen.
Auf diese Weise kann der regionale Landwirt an nur einem einzigen Tag seine gesamte Produktion zu einem angemessenen Preis verkaufen und das Geld unmittelbar einsammeln, die Kunden aber weit günstiger einkaufen als im Supermarkt – eine Win-win-Situation, bei der nur der ursprüngliche Hauptverdiener leer ausgeht, der Zwischenhändler. Die Organisation von Zeit, Ort, Ablauf und Vorbestellungen übernimmt O Topos Moy. Die positive Resonanz auf diese Initiative äußert sich nicht selten in großen Nahrungsmittelspenden an die soziale Lebensmittelausgabe im Anschluss an die Marktverkäufe.
Als wünschenswerter Nebeneffekt hat der Druck dieser Bewegung inzwischen Supermärkte indirekt gezwungen, ihre Gewinnspannen an die Kaufkraft der Haushalte anzupassen und den Erzeugern fairere Preise zu zahlen, anstatt sich anhand kartellartiger Strukturen in Griechenland durch die Krise zu bereichern.
Soziale Lebensmittelausgabe: In Not Geratenen Mitbürgern bietet O Topos Moy die soziale Lebensmittelausgabe an. Für die je ca. 35kg umfassende Ration wird allerdings nicht mit Geld, sondern mit monatlich acht Stunden Mitanpacken gezahlt. Rasen mähen, Hof kehren, Stühle schleppen – es gibt immer etwas zu tun.
Wenn es aber aufgrund von Krankheit, Alter oder Zeitmangel nicht möglich ist, selbst mitzuhelfen, kann auch problemlos jemand aus dem Freundeskreis, der Familie oder der Nachbarschaft vorbeigeschickt werden und die eigene Arbeit übernehmen. In der zentralen Datenbank werden die Stunden dann entsprechend eingetragen und angerechnet.
Geführt werden nur unverderbliche Waren, die nicht gekühlt werden müssen, wie zum Beispiel Mehl, Zucker, Linsen, Bohnen, Nudeln, Kichererbsen, Gerste, Teigwaren, Reis, Konservendosen, Olivenöl oder Kindermilchpulver. Aktuell werden etwa 130 Familien monatlich auf diese Weise mit dem Nötigsten versorgt.
Humanitäre Hilfe für Geflüchtete : Seit Jahren bildet Griechenland als Teil der EU-Außengrenze unfreiwillig eines der Epizentren der Flüchtlingskrise. Nach der humanitären Katastrophe der Jahre 2015 und 2016 nie ganz versiegt, steigt der Zustrom Ankommender zur Zeit wieder rasant an, ohne dass damals wie heute ausreichende Kapazitäten und Mittel zur Verfügung stünden.
In Anbetracht der unbeschreiblichen Not in den überfüllten Lagern, die damals provisorisch im Umland von Katerini aufgebaut wurden, wurden Freiwillige von O Topos Moy initiativ, um Krankheit, Hunger und Unterkunft von unzähligen Menschen schnell und wirksam in den Griff zu bekommen. Palettenweise wurden Medizin, Nahrung und Grundhygieneartikel organisiert und an Flüchtlingslager, Hilfswerke und staatliche Träger verteilt.
Noch immer werden die ca. 400 Geflüchteten innerhalb der Stadt, aber auch unzählige andere Flüchtlingslager und soziale Einrichtungen im ganzen Land mit Medikamenten und medizinischem Material versorgt.
Wettbewerb der Erzählungen:
Genauso wie die Deckung der biologischen und sozialen Grundbedürfnisse, gehört auch der Wunsch nach Selbstverwirklichung im künstlerischen Ausdruck zum Fundament der menschlichen Natur – die Gedanken sind, glücklicherweise, frei. Außer einer Theater- und Tanzgruppe beherbergt O Topos Moy auch den Wettbewerb der Erzählungen, an dem seit nunmehr sieben Jahren Menschen aus allen Altersgruppen und von überall her teilnehmen können.
Mittels einer speziell dafür entwickelten Internetplattform können alle, die mindestens das Grundschulalter erreicht haben, in einem vorgegebenen Zeitraum einen Text hochladen, der dann von einer feststehenden Jury aus Experten und interessierten Laien begutachtet wird. Auf eine einschränkende Themenvorgabe wird dabei bewusst verzichtet, da das Anliegen genau darin besteht, unterschiedlichsten Autoren die Freiheit zu geben, das zu sagen, was sie sagen wollen. Die einzige Voraussetzung soll die Liebe zum geschriebenen Wort sein.
Nach Sichtung und Evaluierung werden schließlich mehrere Sieger in jeder der vier Alterskategorien ermittelt – Grundschule, Mittelstufe, Oberstufe, Erwachsene – und in einer Zeremonie gekürt. Die Aufsätze dieser Autorinnen und Autoren werden außerdem in einem Band gesammelt, abgedruckt und veröffentlicht.
Infoveranstaltung der GSKK in der Lutherkirche in Köln
Infoveranstaltung der GSKK in der Lutherkirche in Köln
Aus Griechenland über Zoom zugeschaltet: Elias Tsolakidis, Mitbegründer von O Topos Moy, referierte über Gründung und verschiedene Projekte der Bürgerinitiative.
Infoveranstaltung der GSKK in der Lutherkirche in Köln
Auf dem von der Gruppe übernommenen Areal der ehemaligen Tabakplantage in Katerini
Elias Tsolakidis stand nach seinem Vortrag für Fragen und Diskussionsbeiträge weiter zur Verfügung.
Seife aus der Sanitärmittelfabrik Viome in Thessaloniki: ein weiteres Projekt, das von der GSKK unterstützt wird. Seitdem sich die überschuldeten Fabrikbesitzer vor den Gläubigern in unbekannte Richtung abgesetzt hatten, wird die Fabrik von der Belegschaft in Eigenregie weiter betrieben.
Nach und nach erweiterte sich daraufhin das Betätigungsfeld von O Topos Moy: mittlerweile betreibt die Gruppe 19 soziale Projekte, darunter neben der Brandschutzgruppe eine soziale Arztpraxis und Apotheke, eine Lebensmittelhilfe, eine alternative Bücherei, Ausgabe von Schulmaterialien an bedürftige Kinder, Humanitäre Hilfe für Flüchtlinge sowie die Förderung von Kunst und Kultur.
2012 wurde dafür die zuvor 15 Jahre leerstehende Lagerhalle einer verlassenen Tabakplantage okkupiert und in Eigenregie renoviert. Heute sind um die 4000 Mitstreiter in den verschiedenen Projekten aktiv.
Mediale Beachtung und landesweite Nachahmung fand zum Beispiel die „Kartoffelbewegung“: nachdem die Erzeugerpreise für Kartoffeln auf 10 Cent pro Kilo und damit unter die Produktionskosten gefallen waren, bei Supermarktpreisen um die 1,25 €, nahm O Topos Moy örtlichen Landwirten die Ware für 25 Cent ab und vermarktete sie zum Selbstkostenpreis. Bald darauf erweiterte sich diese Aktion auf weitere landwirtschaftliche Güter wie Orangen, Oliven und Milchprodukte.
Auf Einladung des Griechenland-Solidaritätskomitees Köln (GSKK) wurden die Aktivitäten der Gruppe am 07.10.2020 in der Lutherkirche in Köln mit einem Vortrag des Mitbegründers Elias Tsolakidis vorgestellt. Wegen der Corona-Reisebeschränkungen musste der Referent per Zoom-Übertragung vom heimischen Rechner der Veranstaltung zugeschaltet werden.
Als demnächst neu geplantes Projekt kündigte Tsolakidis die Einrichtung einer Sozialküche an, die Bedürftigen ein kostenloses Mittagessen anbieten soll. Denn durch den in der Corona-Pandemie eingebrochenen Tourismus hätten sich die Arbeitslosigkeit und die sozialen Probleme erheblich verschärft, was im kommenden Winter „mit voller Wucht“ spürbar werden wird. Hierfür warb Tsolakidis um Spendenhilfe.
Weitere Informationen über die Gruppe sind zu finden unter http://www.kikaf.spt20.de/.
In Köln koordiniert auch das GSKK die Zusammenarbeit mit dieser Gruppe und weiterer sozialer Projekte in Griechenland. Kontakt hier: info@gskk.org.
Udo Slawiczek
3 Gedanken zu „Selbsthilfe, wo sich der Staat nicht (mehr) rührt: die Bürgerinitiative O Topos Moy (Mein Ort) in Katerini/ Nordgriechenland“
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