Hartz-IV-Demütigungen seit 2004


Variablen setzten Beginn

Vor einigen Tagen entschied das Bundesverfassungsgericht die „Hartz-Sanktionen“ für verfassungswidrig. Jedenfalls teilweise. Darüber kann man sich freuen. Man kann aber auch sagen, dass diese verfassungswidrigen Gesetze 15 Jahre Bestand hatten, ohne dass es die gewählten Regierungen, die jeweils aus CDU, SPD und Grünen bestanden, Änderungen für nötig befunden hätten. Die Hartz-Gesetze waren seinerzeit auf ausdrücklichen Wunsch der Wirtschaftslobby eingeführt worden. Manchen Neoliberalen oder Mitgliedern in der CDU und FDP gingen die Hartz-IV-Gesetze damals nicht weit genug. Weiter unten mehr!

Verarmung wurde in Kauf genommen

Bereits zu Beginn war klar, dass die Regierung von SPD und Grünen unter Gerhard Schröder zuvorderst die Sozialkosten senken wollten. Spätere Untersuchungen wiesen nach, dass die Hartz-Gesetze mit meist sinnlosem „Fördern“ und maßlosem „Fordern“ kaum Auswirkungen auf die Entwicklung der Erwerbslosenzahlen hatten – nicht einmal in den Krisenjahren ab 2008. Und kaum jemand der „Volksvertreter“ wollte ernst nehmen, dass Menschen dadurch verarmten, obdachlos wurden oder krank, früher starben, ganze Familien zerrüttete oder die Selbstmordrate stieg. Man nahm die Folgen in Kauf.

Seit 2004 wurde durch lang anhaltende „Montagsdemonstrationen“ oder „Zahltag-Aktionen“ massiver Protest auf die Straße getragen, während ihre Gegner Erwerbslose als Schuldige in moralische Einzelhaft nahmen. Politik und Wirtschaft stahlen sich so aus der Verantwortung. Die Aktivisten und Betroffenen mussten sich massiven, teils hasserfüllten Anfeindungen aussetzen, besonders durch die „BLÖD“-Zeitung. Keine der jeweiligen Regierungen nahm den Aufruhr zum Anlass für Korrekturen. Solidarität und Unterstützung bekamen die Gedemütigten durch die Linkspartei oder Selbsthilfevereine, denen man später die Förderung strich. Allen voran ist der Verein Tacheles aus Wuppertal zu nennen, der ursprünglich als Reaktion auf die rassistischen Brandanschläge von Solingen und Mölln gegründet worden war und im Februar 2019 sein 25jähriges Jubiläum hatte.

Endlose Prozesslawinen

Seit 2007 gab es wegen der Flut von Klagen einen eigenen Senat beim Bundessozialgericht. Gehör fanden die Betroffenen oft vor Untergerichten. Je höher die Instanzen wurden, umso deutlicher war die Entfernung der Urteile von Bedürfnissen des „normalen“ Volkes. Um die Klageflut zu reduzieren, wollten verschiedene Bundesländer die Rechte Erwerbsloser durch „Prozesskostenhilfebegrenzungsgesetze“ massiv einschränken. Für Erwerbslose wurde die Umkehr der Beweislast als Sonder(-un)recht eingeführt. Soviel also zum Rechtsstaat, von Unrechtsstaat wollen wir hier nicht sprechen. Ein wenig günstiger lief es gelegentlich beim Bundesverfassungsgericht und beim Europäischen Gerichtshof. 

Im Jahr 2005 stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass die im ersten Hartz-Gesetz eingeführte Einschränkung des Kündigungsschutzes für 52-jährige wegen der damit verbundenen Diskriminierung europarechtswidrig sei.
Im Jahr 2007 erklärte das BVerfG die eingeführten „Arbeitsgemeinschaften“ (ARGE) für verfassungswidrig.
Im Jahr 2009 erklärte das BVerfG die Regelleistungen für Kinder zu niedrig und damit für verfassungswidrig.
2010 zwang das BVerfG die Regierung, die Regelsätze wegen Verfassungswidrigkeit zu überprüfen.
Und nun, im November 2019, erklärte das BVerfG die Kürzung der Regelleistungen um 60 bis 100 Prozent unter das Existenzminimum für verfassungswidrig. Eine aktuelle Beurteilung der Entscheidung durch Tacheles findet sich im Anhang. Heribert Prantl weist in der SZ vom 8. November darauf hin: „Das Urteil aus Karlsruhe zu Hartz IV ist eine vertane Chance. Man hätte sich ein Urteil gewünscht, das die gesellschaftliche Spaltung nicht hinnimmt.“ Das Bundesverfassungsgericht ist eben nicht gottgewollt, sondern ein politisch zusammengesetztes Gericht. Es zementiert mit diesem Urteil die zerrissene Republik und die demokratiezerstörende gesellschaftliche Spaltung. 

„Nur die dümmsten Kälber…“

Bedauerlicher Weise muss konstatiert werden, dass der 1874 aus der Schweiz kommende Spruch: „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber“ auch für dieses Land gilt. Denn inzwischen dürften alle Familien irgendwie Erfahrungen mit den Krallen von Hartz IV gemacht haben, zu denen diese Politik ihnen verholfen hat. Dennoch hat es zum erstarken der AfD geführt, vor allem im deutschen Osten, obgleich diese Partei die Hartz-Gesetze noch verschärfen will. Der Rechtsruck in Deutschland ist unverkennbare Folge. „Der hessischen AfD Landtagsabgeordneten Dr. Dr. Rainer Rahn geht sogar noch einen Schritt weiter, und vergleicht Hartz IV Betroffene mit Parasiten. Das erinnert an dunkle Zeiten“, meldete ‚gegen-Hartz.de‘. Ginge es nach der AfD, würde niemand mehr Grundsicherung bekommen, der monatlich über 750 Euro hat.“ Auch Zuverdienstmöglichkeiten würden komplett wegfallen.

Es wäre notwendig, dass sich die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes endlich für eine Politik entschieden, die diese Hatz-Gesetze abwählt und sich für eine soziale Sicherung entscheiden, die noch irgendwie an den „Sozialstaat“ erinnert. Dann müsste man allerdings konsequent bei seinen politischen Entscheidungen sein. (geändert: 19.11.2019, Hans-Dieter Hey)

Tacheles e.V. zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu existenzbedrohlichen Hartz-IV-Kürzungen

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