Die Idylle statt den Abgrund gesehen

Eva Sternheim-Peters: Habe ich denn allein gejubelt? – Eine Jugend im Nationalsozialismus

„Das Ende war für mich keineswegs eine Befreiung. Da kamen fünf Millionen deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft, wurden Millionen vertrieben aus dem Osten, hatten alle irgendwelche Angehörige verloren oder Haus und Heimat. Und das soll der Tag der Befreiung gewesen sein? Damals war das bestimmt nicht so. Aber einige sagten, wenigstens sind wir den Hitler los.“ Eva Sternheim-Peters kam nicht in den Sinn, dass dies die Folgen des Faschismus waren. Als die GIs in Paderborn eintrafen, streckte Eva Sternheim-Peters, 20 Jahre alt, ihnen trotzig den Hitlergruß entgegen.

Der Hitlerfaschismus war eine Zustimmungsdiktatur

Bald nachdem „es“ vorbei war, das Land in Trümmern lag und seine Bewohner über Generationen lang als Verbrechervolk abgestempelt wurden, wollte keiner dabei gewesen sein. Doch die meisten waren Mittäter, Unterstützer in dieser „Zustimmungsdiktatur“, „die Büttel eines Gewaltsystems, die freiwillig einen makabren Dienst versehen haben“, so Karl Weishäupl, ein Widerstandskämpfer.

Und wer es nicht schaffte, sich als unbelastet und „schon immer dagegen“ darzustellen, berief sich auf Unwissenheit, Zwang oder gar den Willen, im Apparat Schlimmeres verhindert zu haben. Auf jeden Fall sollte alles schnell vergessen und am liebsten überhaupt nicht mehr thematisiert werden. Das war lange so in dieser deutschen Verdrängungskultur.

Die Diplompsychologin Eva Sternheim-Peters hat sich in ihrem Buch mit der unrühmlichen Vergangenheit auseinandergesetzt. Sie wollte sich und anderen Klarheit verschaffen, wie man in ein solches Räderwerk hineingerät und selbst zu einem „Rädchen“ wird.

Sie schreibt aus der persönlichen Sichtweise einer bei Machtergreifung siebenjährigen Schülerin, die während der schleichenden moralischen Vergiftung der Zivilgesellschaft durch die nationalsozialistische Propaganda in der zuvor katholisch-bürgerlich geprägten westfälischen Provinz aufwuchs und zur seinerzeit begeisterten Jungmädelführerin wurde.  Sehr detailreich werden die gesellschaftlichen Stimmungen und sozialen Strukturen geschildert, das geistig-politische Klima sowie deren Wandlungen durch den zunächst aufkommenden bescheidenen Wohlstand und den Weg in und durch den Krieg.

Dabei wird aufgezeigt, wie die Jugend in den Massenorganisationen durch „neue“ Lenkmechanismen für das System gewonnen werden konnte und wie „unangenehme“ Seiten des Regimes im eigenen Bewusstsein ausgeblendet wurden.

Eva Sternheim-Peters Buch „Habe ich denn allein gejubelt?“ ist damit nicht nur eine wichtige Ergänzung in der langen Reihe deutscher Vergangenheitsbewältigung. Einmal, weil es in unzweideutiger Weise, entfernt vom Lug und Selbstbetrug und von wissenschaftlicher Nachkriegs-Arroganz und nacherfahrbar authentisch Erlebnisse beschreibt, wie man hineingeriet in dieses ausgeklügelte faschistische System. Es wird einem klar, wie schnell man zum Täter werden konnte – oder durch Unterlassen mitschuldig wurde.

Gibt es Parallelen zum Heute?

Und hiermit ergibt sich ein Moment der Besinnung: Müsste  uns in den Industrieländern  nicht längst klar sein, dass der hiesige Wohlstand auch auf Imperialismus, Ausbeutung anderer Länder, Umweltzerstörung und damit dem Elend anderer aufgebaut ist? Wieweit sind Gleichmut und Ignoranz von heute vergleichbar mit diesem furchtbarsten maschinellen Vernichtungssystem aller Zeiten?

Wie wenig kümmert es heute, dass die um Beispiel bei diversen Textildiscountern feilgebotene Ware für Hungerlöhne ohne Absicherung der Gesundheit oder Altersvorsorge fabriziert werden, und die Entsorgung dieser Billigware über „Kleiderspenden“ dann in anderen Ländern die Produktivität  ruinieren und bittere Armut hervorrufen?

Dass die für unsere Supermärkte schwimmenden Fischfabriken manchem Küstenfischer die Existenzgrundlage nahmen und ihn dann zum Flüchtlingsschlepper oder Piraten mutieren ließen?

Dass die Grundstoffe fürs Smartphone teilweise durch Kinderarbeit in ungesicherten illegalen Minen, betrieben von Warlords in Afrika, aus der Erde geholt werden? Das Gerät dann in Akkordhetze für ebenso schlechte Entlohnung irgendwo in Fernost zusammengelötet wird – und nach der Ausmusterung die Rohstoffrückgewinnung dann unter ökologisch und gesundheitlich unzumutbaren Verhältnissen stattfindet?

Dass die Palmölplantagen für das „umweltfreundliche“ E10-Benzin den Regenwald samt darin lebender Naturvölker verdrängen und viele Tierarten, wie der Orang-Utan damit vom Aussterben bedroht sind?

Wer ist schon bereit, zum Beispiel statt des neuesten Galaxy oder iPhone ein (natürlich nicht mit den allerneuesten Gimmicks ausgestattetes) Fairphone zu ordern. Oder sich bei CCC (Clean Clothes Campaign), zu informieren, wer heute noch einigermaßen umwelt- und sozialverträglich Kleidung fabrizieren lässt – oder mit einer Spende den Textilarbeitergewerkschaften in der Dritten Welt unter die Arme zu greifen.

Es drängen sich bedrückende Parallelen zu damals mit dem heutigen Imperialismus, der Ausbeutung anderer Menschen und moderner Sklavenarbeit auf, auf die unser fragwürdiger Wohlstand gründet. Denn auch der relative Wohlstand im Hitlerfaschismus bis Ende des zweiten Weltkrieges stützte sich auf Ausbeutung und Raub in fremden Ländern und Sklavenarbeit.

„Jüngere Generationen behaupten selbstherrlich, damals hätte jeder sehen können, wissen müssen, worauf das hinauslief“, heißt es bei Eva Sternheim-Peters auf den ersten Seiten – natürlich mit der Folgerung: und sich entsprechen dagegen positionieren müssen. „Wissen Sie, worauf Ihre Zeit hinausläuft?
Können Sie ausschließen, einer Generation anzugehören, die hätte sehen können, dass der technische Fortschritt auf eine Erde, unbewohnbarer als der Mond, hinausläuft?“

Mit Ironie listet Sternheim-Peters zum Ende hin auch einige kleine Widerspenstigkeiten und Unterlassungen auf, mit denen sie sich seinerzeit als Widerständlerin hätte schönreden können, wie es andere getan haben. Womit würde sich die heutige Generation später wohl herausreden wollen? Vielleicht mit „ich hab aber immer meinen Müll getrennt“. So ist Eva Sternheim-Peters Buch nicht nur ein „subjektives Geschichtsbuch“, sondern auch ein zeitloses Dokument über menschliche Verhaltensweisen als Denkanstoß für die Gegenwart. (Text: Udo Slawiczek, Fotos: Hans-Dieter Hey, Udo Slawiczek, Jochen Vogler)

Ein weiterer Text hier!

Eva Sternheim-Peters
Habe ich denn allein gejubelt?
Eine Jugend im Nationalsozialismus
Europa-Verlag, 2015
ISBN 978-3-95890-010-3
782 Seiten, acht Seiten mit Fotografien
gebundene Ausgabe, 24,99 Euro
eBook 19,99 Euro

 

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