Variablen setzten Beginn
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Der Historiker Ludwig Elm aus dem thüringischen Kölleda – 1940 gerade sieben Jahre alt – konnte sich gut erinnern, wie sein Vater mit dem Einberufungsbefehl ins seit 1. September 1939 besetzte Polen geschickt wurde, was diesen nach seiner Erinnerung „freudig erregte“. 1941 dann gab das Oberkommando der Wehrmacht aus Adolf Hitlers „Wolfsschanze“ die Propagandalüge aus: „Zur Abwehr der drohenden Gefahr aus dem Osten ist die deutsche Wehrmacht am 22.6. 3 Uhr früh mitten in den gewaltigen Aufmarsch der Feinde hineingestoßen“. An diesem Aufmarsch war auch Vater Elm mit weiteren 3 Millionen Soldaten beteiligt. Weiter hier!
Rede Adolf Hitlers am 10.11.1938 vor NS-Schriftleitern
Lautsprecheransage von Erich Weinert an deutsche Soldaten in Stalingrad 1942
Am 5. Juli 1941 erhielt Familie Elm diese Nachricht: „Im Verlaufe des Vormarsches unserer Truppen gegen die Sowjet-Armee wurde Ihr Mann Alfred Elm, geb. am 11.1.1909, von einer feindlichen Kugel getroffen“. In treuer Pflichterfüllung – wie es hieß – und mit späterem Eisernen Kreuz als Dank für den „Opfertod“ des Familienversorgers. Im kleinen Ort Kölleda, knappe 30 Kilometer vom KZ Buchenwald entfernt, kamen 394 Menschen bis 1945 um. Im KZ Buchenwald wurden – offenbar auch in „treuer Pflichterfüllung“ – 56.000 Menschen ermordet oder kamen anderweitig durch die Bedingungen dort um ihr Leben. Die Folgen für die Sowjetunion dieses beispiellosen Vernichtungskriegs waren noch verheerender, wie zu zeigen sein wird. Auf 1.800 Kilometern griff die Deutsche Wehrmacht mit 3.600 Panzern und Panzerfahrzeugen an. 5,7 Millionen sowjetische Kriegsgefangene fielen in die Hände der Wehrmacht, über 3 Millionen gingen an Hunger und Verwahrlosung furchtbar zu Grunde.
Lange Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion
Bereits am 4. September 1936 erklärte Hermann Göring, dass eine „Auseinandersetzung mit Russland unvermeidbar ist.“ In den Jahren 1937 und 1938 äußerte sich Adolf Hitler in engerem Kreis mehrmals, dass er die „Russen als Ostseemacht auszuschalten“ gedenke, und am 23. Mai 1939 machte er klar, dass es “um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung sowie die Lösung des Baltikum-Problems” gehe.
Seit diesem Jahr vervielfältigte das faschistische Deutschland die Rüstungsproduktion – und die Staatsschulden. Die Rüstungsausgaben betrugen 1933 ca. 6 Prozent des Volkseinkommens, 1943 lagen sie bei 69 Prozent. Bis 1944 standen über 10 Millionen Deutsche unter Waffen. Es war der totale Krieg, die „rücksichtslose Ausbeutung des gesellschaftlichen Lebens im Interesse einer umfassenden Kriegsvorbereitung, die rücksichtslose Ausschöpfung aller Kräfte des Landes im Kriege und die Anwendung verbrecherischer Mittel und Methoden der Kriegsführung“, so steht es im Sachwörterbuch der Geschichte (Dietz-Verlag 1970).
Am 31. Juli 1940 legte Hitler in einem Gespräch mit Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch und Generaloberst Franz Halder den Überfall auf das Frühjahr 1941 fest, obwohl der Nichtangriffspakt zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion vom 23. August 1939 Bestand hatte. Da vorher noch Jugoslawien und Griechenland „auszuschalten“ waren, wurde der Überfall auf die UDSSR auf den Sommer verschoben.
Die zigfachen Millionenmorde eingeplant
Der „Germanenfeldzug gen Osten“ wurde mit wissenschaftlicher Präzision geplant. Die Ziele: Von den 45 Millionen Menschen, die in den Kriegsplangebieten lebten, sollten 31 Millionen nach Sibirien verschleppt und umgebracht werden. 14 Millionen Menschen waren für die Sklavenarbeit vorgesehen: „Eine Vermehrung der slawischen Bevölkerung ist unerwünscht. Kinderlosigkeit und Abtreibungen sind zu ermutigen. Erziehung ist für slawische Kinder unnötig. Wenn sie bis Hundert zählen können, ist das genug. Die Slawen sollen für die Deutschen arbeiten, wenn sie nicht arbeiten können, sollen sie sterben“, nachzulesen in Heinz Berschickers Werk „Deutsche Chronik 1933 – 1945.“ Mit Zwangsarbeit sollten besonders die Menschen aus Belarus und der Ukraine bedacht werden. Es galt vor allem, „das rote Untermenschentum auszulöschen“.
Beim Angriff der Deutschen war die UDSSR völlig untermilitarisiert und verfügte anfangs über 2,8 Mio. Soldaten, Deutschland über 4,6 Millionen. Über die furchtbare Ermordung von 6 Millionen Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftern, Sinti, Roma und anderen hinaus litt Russland am meisten unter der Nazi-Barbarei. Das Ergebnis des Überfalls waren 27 Millionen ermordete Russen, 1.710 zerstörte Städte, 70.000 Dörfer, 31.850 Industriebetriebe, 99.876 Kolchosen, 13.000 Brücken, 65.000 km Eisenbahnstrecke, 82.000 Schulen und so weiter. Doch mit der Niederlage um Stalingrad im Winter 1942/1943 zeichnete sich ab, dass für Hitler alles verloren war. Das III. Reich zuckte bereits in tödlichen Rückzugsgefechten dahin. Bereits Anfang September 1941 hatte die Wehrmacht 30 Prozent ihrer Panzer verloren.
Kein Brunnen, der nicht vergiftet ist
Nach der faschistischen Führung war nicht der eigene Wahn verantwortlich, sondern das deutsche Volk. Am 7. Februar 43 führte Hitlers zweiter Mann für´s Grobe – Martin Bormann – aus, eine Niederlage sei das „Versagen des deutschen Volkes“. Daher hätte es nichts anderes als die Vernichtung verdient. Zudem solle überall verbrannte Erde hinterbleiben. In einem Brief Heinrich Himmlers vom 7. September 1943: „Es muss erreicht werden, dass bei der Räumung von Gebietsteilen in der Ukraine kein Mensch, kein Vieh, kein Zentner Getreide, keine Eisenbahnschiene zurückbleiben, kein Bergwerk vorhanden ist, das nicht für Jahre gestört ist. Kein Brunnen vorhanden ist, der nicht vergiftet ist. Der Gegner muss wirklich ein total verbranntes und zerstörtes Land vorfinden…tun Sie Ihr Menschen möglichstes.“
Russenhetze hat bei uns Tradition – und System
Es gilt auf einen Umstand hinzuweisen: Die von jeweiligen Machthabern politisch geschürte Angst vor den Russen hat in Deutschland eine beklemmende Tradition. Bereits ab dem 13. Jahrhundert hetzte der Deutsche Orden während seiner militärischen Auseinandersetzungen gegen die „Rus“ und Letten im Osten. Der Zustand liegt weit vor der Oktoberrevolution 1917. Im 20. Jahrhundert nahm die „Russophobie“ pathologische Züge an, als die kapitalistischen Mächte um ihre Vorherrschaft bangten – aus Angst vor dem Proletariat. Gezielt wurde in der Bevölkerung die Angst vor den „Kosakenhorden“, dem „unzivilisierten Russenheer“ und den „asiatischen Mordbrennern“ geschürt.
Und bereits im I. Weltkrieg verlor die Sowjetunion ein Drittel ihrer Menschen und die Hälfte der Industrieproduktion. Bis zum II. Weltkrieg änderte sich die Stimmung trotzdem nicht, in dem es um die Bekämpfung einer angeblichen „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ ging. Es war in Umkehrung der Tatsachen der „Kreuzzug der völkisch-christlich-deutschen Weltauffassung gegen den Geist der volksfremden marxistischen Klassenverhetzung“ (Alexander Bahar). So aufgehetzt, begingen aus Angst vor dem Sieg der Russen und „Bolschewiken“ ganze Ortschaften in Österreich und Deutschland nach dem II. Weltkrieg Selbstmord.
Nach dem II. Weltkrieg ging es mit Konrad Adenauer, der das deutsche Volk als „entsetzlich dumm“ verachtete (Spiegel vom 07.04.2017), weiter mit Hetze gegen die Sowjetunion und seiner „Politik der Stärke“. Für ihn war der „Bolschewismus“ der Todfeind des Christentums. Für Gorbatschow galt Adenauer als Kriegshetzer. Michail Gorbatschow bemängelte Jahre später, die Russlandberichterstattung in Deutschland sei teilweise oder überwiegend von einer ablehnenden Haltung und mangelnden Differenziertheit getragen. Am 14. Mai 2009 bezeichnete er im Tagesspiegel die NATO-Osterweitung als „großen Fehler“, zudem sei die Deutsche Presse „die bösartigste überhaupt“. Und heute? Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen, forderte kürzlich, mit Russland mit Zuckerbrot und Peitsche umzugehen, einer Mischung aus „Dialog und Härte“. Das NATO-Großmanöver „Defender 2021“ zielt in diese Richtung. Baerbocks Sicht „ist rein westlich-liberal, ein Ansatz zu einer Außenpolitik, die sich bemüht, den russischen Blickwinkel zu verstehen, fehlt Baerbock ebenso wie den Grünen generell“ schreibt Der Freitag am 10. April 2021. Sie verkennt zudem, dass die Weststreitkräfte Russland militärisch völlig umzingelt haben. Selbst Außenminister Maas bremste : „Wir können aber kein Interesse daran haben, uns in dieses Konfrontationsgeschrei einzureihen. Wir wollen einen Dialog und eine gute Nachbarschaft mit Russland“.
Mehr militärische Eskalation mit den Grünen?
Baerbock sollte eines nicht vergessen: Die Osterweiterung der NATO griff über Jahre über ihre Grenzen hinaus. In der „Pariser Grundakte“ vom 27. Mai 1997 wurde noch lobend erwähnt, dass Russland „tiefe Einschnitte in seine Streitkräfte vorgenommen habe“ und „in beispielloser Weise Truppen aus den Ländern Mittel- und Osteuropas sowie den baltischen Staaten abgezogen“ habe. Seit 2017 sinken die Rüstungsausgaben Russlands tendenziell.
Mit diesem Entgegenkommen war nicht gemeint, dass die NATO sich bis an die Grenzen der Russischen Föderation ausdehnt. Jahre zuvor hatte das US-Außenministerium und die NATO Aktivitäten in der Ukraine finanziert, die der ökonomischen und militärischen Annäherung an den Westen und die Herauslösung aus den historisch gewachsenen Beziehungen zu Russland dienten. Sevim Dagdelen hält Baerbock für „regierungsbesessen und klimafeindlich“: „Das Werben der Grünen-Vorsitzenden für mehr Militäreinsätze und noch mehr Milliarden für die Aufrüstung gerade auch angesichts Corona-Pandemie und Klima-Krise ist regierungsversessen und verantwortungslos. Klimaschutz bedeutet Abrüstung, nicht Aufrüstung“. Die Frage ist daher, ob wir so weitermachen wollen, wie bisher. (20.06.2021, Hans-Dieter Hey)
Zur Einkreisung Russlands ein Artikel von R. Lauterbach in der Jungen Welt vom 14.06.2021
Zum Überfall auf die Sowjetunion ein Flyer des VVN-BdA
Fotografien:
Rudi Denner, Berlin, (Ausstellung „Streifzüge“, Fotografien aus Dietzhausen, Thüringen)
Hans-Dieter Hey, Hürth, (Privatarchiv)
Literatur:
1) Ludwig Elm, Geschichte eines Historikers, Erinnerungen aus drei deutschen Staaten, Papyrossa-Verlag 2018
2) Sachwörterbuch der Geschichte, Bd. 1 und 2, Dietz Verlag Berlin 1969
3) Heinz Bergschicker, Deutsche Chronik 1933-1945, Verlag der Nation 1988
4) Alexander Bahar in: Widerstand ist nichts als Hoffnung, Sammlung kritisches Wissen, Verlag Thalheimer 2021
7 Gedanken zu „Überfall auf die UDSSR 1941 – Russophobie bis heute“
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