Rede von Ulrich Sander, Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Anti-faschisten (VVN-BdA) anlässlich der Mahnwache zur Reichspogromnacht vom 9. November 1938, Bergisch-Gladbach. Bergisch-Gladbach, 9. 11. 2013
Ich danke für die Gelegenheit, hier bei der traditionellen Mahnwache an der Ge-denktafel am ehemaligen Stellawerk in Bergisch-Gladbach sprechen zu dürfen. Wir erinnern an die Reichspogromnacht vor genau 75 Jahren. Gestatten Sie mir, auch an die anderen Jahrestage zum 9. November aus dem vorigen Jahrhundert zu erinnern.
So an den 9. November 1918 und die Proklamation der deutschen Republik. Er-kämpft wurde sie von revolutionären Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Solda-ten. Regierungschef wurde Friedrich Ebert, der sich schon bald danach mit den monarchistischen Generälen verbünden sollte.
Erinnern wir an den 9. November 1923, an dem Hitler und Ludendorff gegen die demokratische Republik putschten. Hitler hatte sich der Unterstützung der reaktionären Monarchisten, Militärs und Industriellen versichert. Sein Putsch schlug fehl, aber er leitete die Konterrevolution ein, die vor 80 Jahren am 30. Ja-nuar 1933 mit der Machtübertragung an die Nazis durch die republikfeindlichen Kräfte endete.
Auf dem Weg in den Krieg und den Holocaust ist dann der 9. November 1938 ein besonders grauenvolles Ereignis. Die antijüdische Politik und Praxis der Jahre seit 1933 bis 1938 gipfelte zunächst în den Nürnberger Rassengesetzen, die u.a. vom Ministerialbeamten und späteren bundesdeutschen Kanzleramtschef Hans Globke verfaßt wurden. Es kam zum Novemberpogrom, höhnend und verniedlichend „Reichskristallnacht“ genannt. SA- und SS-Trupps, zivil getarnt, sowie andere Nazis zerstörten am 9. und 10. November 1938 Tausende jüdische Geschäfte, Wohnungen und Synagogen. Sie ermordeten Hunderte und kerkerten 30.000 jüdische Menschen ein. Die Nazis drängten sie zur Auswanderung und Aufgabe ihres Besitzes.
Die Schäden des Pogroms wurden von der „Reichsgruppe Versicherungen“ auf 50 Millionen Reichsmark beziffert. Im Auftrag Görings wurde den Juden zum „Schadensersatz“ eine Kontribution auferlegt, die schließlich 1,2 Milliarden RM betrug. Dieses Geld wurde in die Rüstung gesteckt. Der 9. November 1938 leitete ein Jahr später über in den Krieg, der sich zum Vernichtungskrieg steigern sollte.
Hermann Göring, zweiter Mann nach Hitler, setzte ab 1938 auf den zügigen Ab-schluß der „Arisierung“ der deutschen Wirtschaft. Er sagte: „Bei der Arisierung der Wirtschaft ist der Grundgedanke folgender: der Jude wird aus der Wirtschaft ausgeschieden und tritt seine Wirtschaftsgüter an den Staat ab.“ Einen Ausblick auf die nächste Zeit gab Göring mit folgenden Ausführungen: „Wenn das Deut-sche Reich in irgendeiner absehbaren Zeit in außenpolitischen Konflikt kommt, so ist es selbstverständlich, daß auch wir in Deutschland in aller erster Linie daran denken werden, eine große Abrechnung mit den Juden zu vollziehen.“ Der Novemberpogrom war also der Auftakt zum Krieg und zur Vernichtung der europäischen Juden, aber auch der Roma, und später der Slawen.
Die „große Abrechnung mit den Juden“ kündigte auch Adolf Hitler ein Vierteljahr später an. In seiner Reichstagsrede zum zehnten Jahrestag seiner „Machtergreifung“ am 30. Januar 1939 drohte er mit der „Vernichtung“ der Juden in Europa, wenn „sie“ den Krieg gegen Deutschland heraufbeschwören würden.
Nach dem Pogrom im November 1938 wurde die „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ gebildet; Leiter war der Gestapo-Chef Müller; die tägliche Ar-beit organisierte Adolf Eichmann. Die „Auswanderungsarbeit“ unter Eichmanns Führung stand von nun an unter der heimlichen Überschrift „Deportation“ und damit Abtransport in den Tod.
Heute erinnern viele Menschen auch an den 9. November 1989. An diesem Tag fiel in Berlin die Mauer. Es begann ein Prozeß, der in die Vereinigung beider deutschen Staaten einmündete. Immer hat man uns diesen Prozeß der Wiederver-einigung als ‚Einheit in Frieden und Freiheit’ angekündigt. Wie viele Hoffnungen verbanden die Menschen mit diesem Ereignis. Doch jetzt, 24 Jahre später wird immer deutlicher: Nicht Frieden in Freiheit erhielten wir. sondern auch deutsche Kriege infolge der NATO-Mitgliedschaft und weniger Freiheit infolge des wuchernden Überwachungsstaates. Anstelle der Berliner Mauer haben wir nun die Frontex-Mauer, die das EU-Gebiet umschließt und besonders im Mittelmeer zu tödlichen Ausgrenzungen von Flüchtlingen führt.
Wieder gibt es in unserem Lande viele Opfer von rechtem Terror – aber auch von behördlichem Handeln gegen Flüchtlinge. Wir gedenken daher auch der vielen namenlosen Opfer – darunter der Sinti und Roma – die bis heute oft der Abschiebung unterliegen, ferner der Menschen, die in Lampedusa und spanischen wie griechischen Küsten stranden. Neonazis schaffen es, gegen diese Menschen sogenannten Volkszorn zu organisieren. Das ist zutiefst beschämend.
Es ist auch zutiefst beschämend, was in unserem Bundesland Nordrhein-Westfalen passierte. Obwohl hier ebenfalls die Nazimörder des NSU Untaten be-gangen haben, wurden keine Lehren etwa aus dem Mord von 2006 in Dortmund gezogen. Nordrheinwestfälische Behörden verdächtigten die Familie der Gamze Kubasik, des Opfers in rassistischer Manier. Hinweise auf den Terror von Rechts wurde nicht beachtet. Hinweise auf die Kontakte des Verfassungsschutzes und seiner V-Leute zu den Mördern wurden und werden noch immer nicht untersucht. Der Landtag setzte keinen Untersuchungsausschuß ein, sondern sprach Polizei, Justiz und Verfassungsschutz von jeder Mitverantwortung frei. Ja man behielt sogar das V-Mann-Unwesen bei.
An Tagen wie diesen erinnere ich mich auch immer an einen Tag vor 66 Jahren. Am 1. April 1947 kam ich zur Schule. Es war die Schule am Bullenhuser Damm in Hamburg. Es wurde gemunkelt, hier im Keller hätten die Nazis kurz vor Kriegsende 20 jüdische Kinder ermordet. Die Lehrer stritten es ab, meine Eltern, aktive Antifaschisten, bestätigten es, denn sie hatten davon in der Zeitung gelesen: Die Mörder stünden vor einem englischen Gericht. Einige wurden hingerichtet, andere blieben straffrei. So Arnold Strippel, Kommandeur der Mordaktion. Als genügend Beweise gegen ihn zusammenkamen, wurde erneut ein Prozeß gegen ihn versucht. Aber nun galt die englische Gerichtsbarkeit nicht mehr. Strippel konnte unmittelbar nichts nachgewiesen werden, hatte nicht selbst Hand angelegt. So wurde er freigesprochen und bekam für die Untersuchungshaft noch Entschädigung. Leider haben auch viele weitere unzählige Schuldige ihre verdiente Strafe nicht erhalten.
Wofür wir immer stritten, wird nun doch noch wahr: Jetzt werden neue Verfahren gegen alte Täter auf der Rechten angestrengt. Das beseitigt das alte Unrecht nicht. Vor allem werden immer noch nicht jene belangt, die für Strafbefreiung und hohe Pensionen für Nazis in all den Jahrzehnten sorgten. Sie schulten eine Generation von Geheimdienstlern und Polizisten, die sich nicht vorstellen konnten und wollten, daß es einen terroristischen Nationalsozialistischen Untergrund NSU gibt. Sie sahen das Übel nur links und ließen rechts alle Blumen blühen. Und deshalb ist es richtig, die Prozesse gegen Nazitäter auch heute zu führen.
Der Schwur von Buchenwald für die Ausrottung des Nazismus mit seiner Wurzel und der Artikel 139 GG über den Fortbestand der antinazistischen Rechtssprechung von nach 1945, sie gelten weiter. Für seine Anwendung wie für die des Artikels 26 GG, der Angriffskriege verbietet, sowie des Asylrechts streiten wir weiter. Dafür müssen immer neue Mitstreiter nachrücken. „Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig“, heißt es im Schwur der befreiten Häftlinge von Buchenwald.
Zu diesen Kameraden gehört auch der russische jüdische Offizier Sascha Pechersky, der am 10.Oktober 1943 einen Aufstand im Vernichtungslager Sobibor anführte. Hunderte hatten die Bewacher überwältigt und das Lager ver-lassen, und Pechersky rief: „Es gibt keinen Weg zurück. Ein schrecklicher Krieg zerstört die Welt und jeder Häftling ist Teil dieses Kampfes, ob tot oder leben-dig.“ Im Gedenken auch an diese Häftlinge rufen wir. Schluß mit dem Krieg, Nie Wieder!
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