Variablen setzten Beginn
Armut und Ausgrenzung im reichen Deutschland? Auch wenn manch einer der Entscheidungsträger/innen das nicht wahrhaben, bagatellisieren oder tabuisieren möchte – ja es gibt sie, und immer mehr Menschen sind betroffen. Dies hat zuletzt der Entwurf für den 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung illustriert.
Armut in Deutschland hat viele Gesichter: kindliche, junge und faltige, helle und dunkelhäutige, strahlende und verhärmte. Das zeigen auch die sog. Armutsrisikogruppen, die da heißen: Kinder und Jugendliche, junge Erwachsene, Erwerbslose, Frauen, Alleinerziehende oder -lebende, Menschen mit Migrationshintergrund, in Ostdeutschland Lebende… Armutsrisikoquoten sind indes nur ein Instrument der Statistik, das relative Armut zu messen und zu vergleichen sucht. Sie spiegeln damit aber nur die messbare, die statistisch erfassbare, die sichtbare Armut wider und lassen so jene besonders betroffenen Menschen außen vor, die in Sammel- oder illegalen Unterkünften oder ohne festen Wohnsitz bzw. Obdach leben.
Als Anlass zur sozialpolitischen Entwarnung vor Armut führt man außerdem gerne sinkende Zahlen von Hartz-IV-Betroffenen und die geringe Bezugsquote bei der Altersgrundsicherung an. Stillschweigend außer Acht lässt man dabei all jene, die aus Scham oder Angst ihre Ansprüche auf Lebensunterhalts-Unterstützung durch den Sozialstaat nicht einlösen. Diese sog. verdeckte Armut wird aber im Alltag immer sichtbarer: die Warteschlangen vor Suppenküchen, der Ansturm auf Tafeln, Flaschen Sammelnde, Obdachlose und hochbetagte Arbeitende: die Armutsindustrie wächst!
Die Kehrseite der Medaille ist der immens angewachsene private Reichtum an Einkommen und Vermögen. Während die Armut und Überschuldung Vieler wächst und die Armut der öffentlichen Hand, der Kommunen und des Sozialstaates immer offenkundiger wird, nimmt auch der private Reichtum Weniger massiv zu: Das Nettoprivatvermögen der reichsten 10 Prozent der Haushalte stieg von 1998 bis 2008 um 8,2 auf fast 53 Prozent, während es bei den ärmsten 10 Prozent um 2,5 auf 1,2 Prozent sank. Kontinuierlich wächst zudem die Zahl der überschuldeten Haushalte, ebenso wie die Höhe ihrer Schulden.
Diese aufgehende Schere zu schließen, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zu kitten, umzufairteilen, wäre Aufgabe einer zukunftsgerichteten, verantwortungsvollen Politik. Nötig ist nicht nur die Verbesserung der Einnahmen der öffentlichen Hand durch Steuererhöhungen, sondern auch die Steuerlast primär wieder bei jenen zu erheben, denen sie nicht weh tut: Bei Menschen mit hohen Einkommen und privatem Reichtum, bei Kapital-, Betriebs- und Vermögenserträgen, woraus heutzutage bloß ein knappes Viertel des Steueraufkommens generiert wird – den größten Batzen erzielen nämlich nach wie vor Verbrauchs-, Lohn- und andere Massensteuern.
Nach wie vor kennzeichnet die konservative und neoliberale Mehrheit im Deutschen Bundestag ein fehlender politischer Wille zur Umverteilung von unten nach oben, gepaart mit einer Tabuisierungsstrategie der realen Spaltungs- und Armutsverhältnisse im Land. Lieber hofiert man Hoteliers, entlast Erben und Kapitalbesitzer, zerstört mit immer neuen „Reformen“ die letzten funktionierenden Reste des Sozialstaates und raubt der öffentlichen Hand die Einnahmen. Zwar stellt man Rettungsschirme für Banken bereit, für öffentliche und Sozial-Aufgaben aber gelten die Schuldenbremsen und das Spardiktat – „verkehrte Welt“ oder „Realpolitik“?
Das breite gesellschaftliche Bündnis Umfairteilen kritisiert diese Politik als problemverschärfend und fordert vehement ein Umsteuern ein, indem es sich für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer sowie eine einmalige Vermögensabgabe ausspricht. Die Zusammenhänge von Armut und Reichtum deutlich zu machen, die politische Fehlsteuerung der Verantwortlichen klar zu benennen, und die Armut zugleich bildlich sichtbar zu machen, ihr ein, zwei, viele Gesichter zu geben, dazu will diese Wanderausstellung beitragen. Sie möchte für die sensible, z.T. unsichtbare Armut und Ausgrenzung hierzulande eine Sphäre von nachdenklicher, kritischer Aufmerksamkeit schaffen – möge es gelingen! (Dr. Carolin Butterwegge)