Hartz IV: Jobcenter brutal

Inzwischen hat die brutale Sanktionspraxis bei Hartz IV auch Mittelstand und Bildungsbürgertum erreicht. Dieses Interview deckt an einem Fall beispielhaft auf, mit welchen Methoden man im Jobcenter zu rechnen hat. Dabei kommen auch die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) nicht gut weg. Der Kunsthistoriker Enno E. Dreßler erzählt zudem über seine Beschäftigung bei der KVB, bei der er einen staatlich unterstützten Job als Fahrkartenkontrolleur hatte. Das Interview ist hier zu hören.

Im Klappentext zu seinem Buch wird gefragt: „Vermitteln ‚Agenturen für Arbeit‘ junge Frauen an Bordelle? Führen ‚Jobcenter‘ Krieg gegen ihre ‚Kunden‘? Macht eine Kümmerer-Mafia Milliarden mit meschuggen ‚Maßnahmen‘? Bedeutet Arbeitslosigkeit Verlust von Grundrechten? Und was verbirgt sich eigentlich hinter all‘ den wohlklingenden Phrasen aktueller Arbeitslosenfürsorge?“. Viel kann es nicht sein, wenn man dem teuer und gut qualifizierten Kunsthistoriker einen Job als „Gemüseputzer nach Anleitung“ anbietet. Sein – sozusagen – Undercover-Report deckt ein Tollhaus auf, das immer mehr Menschen erfahren müssen. „Gut ist als erstes die Tatsache, dass einer überhaupt über diese Unverschämtheiten unserer Gesellschaft berichtet“, heißt es weiter. Ein Ausschnitt aus dem Buch kann hier gelesen werden. 

Eines war nach Erscheinen des Buches vorauszusagen: Das Jobcenter zeigte großes Interesse daran und man kann sich denken, warum. Es sei jedem PAP, also „persönlichem Ansprechpartner“, eines Jobcenters als Buch über Entwürdigung und Bestrafung bis zur Versagung der Existenzgrundlagen als Vorhaltespiegel anzuempfehlen. Der Wahnsinn scheint Methode zu haben und führt manche sogar in den Hungerstreik, wie Ralf Boes, der über 75 Tage hungerte und 18 Kilo verlor. Soweit ist Enno E. Dreßler noch nicht und hat deshalb in seinem Buch auch nicht mit Humor gespart. Darum kommt man wohl auch nicht bei der Beschreibung eines Tollhauses herum.

Zu Beginn klärt Enno E Dreßler auf, wie es ihm die zwei Jahre bei den Kölner Verkehrsbetrieben mit einem öffentlich geförderten Job ging. „Seine abenteuerlichen Erlebnisse mit schillernden Fahrgästen, putzigen Prüfern und einer speziellen Unternehmenskultur beschreibt er packend und präzise im Stil von Reportagen“. Es geht unter anderem um sogenannte auferlegte „Fangquoten“ von „mindestens zehn Fällen pro Prüfer und Schicht“, sagt Dreßler. Da scheint der Druck so hoch gewesen zu sein, dass man es gelegentlich mit der Prüfgenauigkeit wohl nicht so genau nahm – zu Gunsten der Fanquote. Mehrere Tageszeitungen hatten darüber berichtet. Die KVB in Köln erklärte nervös, dass es „zu keiner Zeit eine Erfolgsquote für Kontrolleure gegeben“ habe. Dreßler hat das anders in Erinnerung.

Inzwischen hat das Jobcenter solche öffentlich geförderten Jobs an die KVB wohl eingestellt. Doch da sollte man nochmal genau nachforschen. Es ist ein erstaunlicher Erfahrungsbericht über „moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ entstanden, der manchen die Augen öffnen dürfte. Es handelt sich um die Kehrseite unserer in die Hirne zementierten „Fastvollbeschäftigung“, und zwar um Beschäftigungsbedingungen, die man sich kaum vorstellen kann, die aber in der „Sozialen Marktwirtschaft“ leider keine Ausnahme mehr sind. Und die zählt schon längst zu den Mythen unserer Gesellschaft. (Hans-Dieter Hey)

Die Unfreiheit des Arbeitslosen
Dreßler, Enno E.
Paperback
352 Seiten
ISBN 978-3-7386-1386-5
Verlag: Books on Demand
€ 19,90
inkl. MwSt. zzgl. Versand

Die Freiheit des Fahrausweisprüfers
Dreßler, Enno E.
Paperback
180 Seiten
ISBN 978-3-7386-3574-4
Verlag: Books on Demand
€ 14,90
inkl. MwSt. zzgl. Versand

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