17 Meter Welt

Demenz als Gnade?

Helmut ist 76. Nach 45 Jahren Arbeit als Maurer und später als Chemiearbeiter wurde er mit 59 in den Vorruhestand überredet und glitt dann weiter in die Rente. In den folgenden Jahren rutschte er in eine Antriebslosigkeit ab, die dann mit zunehmender Demenz einherging.

17 Meter sind es von seinem Bett bis zum Badezimmer – und das ist der Radius, in dem er sich in seinem jetzigen Zustand noch bewegt. Nur für Arztbesuche, im Taxi mit Begleitung, ist er noch zum Verlassen der Wohnung zu bewegen.

Muss man ihn bedauern? Vielleicht fühlt er sich heute sogar wohler als früher.
Er lebte stets allein, pflegte keine Kontakte und ließ sich bis zum 55. Lebensjahr von seiner Mutter versorgen. Von sonstigen Mitmenschen fühlte er sich vorwiegend unverstanden und übervorteilt. Ständiges Lamentieren über betrügerische Nachbarn, von früheren Arbeitgebern vorenthaltene Lohnansprüche, unbewiesene Diebstähle und Sachbeschädigungen von ehemaligen Bekannten und Vertrauenspersonen waren an der Tagesordnung, so dass auch Angehörige den Umgang reduzierten. Auch allgemein, zu Politik und Gesellschaft, offenbarte sich ein notorisch fatalistisches Weltbild.

Hobbies gab es durchaus, z. B. Holzschnitzerei und Kakteenpflege. Auch mit Renovierungen und Umbauten am Wohnhaus war er lange Zeit ausgefüllt. Aber schon in den letzten Jahren der Beschäftigung entwickelte er einen unstillbar scheinenden Sammeldrang und füllte nach und nach jegliche freie Fläche mit Gerümpel unterschiedlichster Art an, so dass auch Werkraum und Garten schließlich nicht mehr zugänglich waren.

 Die Antriebslosigkeit scheint dann von einer zeitweiligen psychopharmakologischen Behandlung verstärkt worden zu sein, so dass sein Tag nur noch aus Lektüre der Tageszeitung und Fernsehen bestand. In der selbstgewählten Isolation und fehlender Tagesstruktur gingen dann allmählich auch die geistigen Fähigkeiten zurück. Erstes Anzeichen war, dass von den früher im Übermaß eingekauften und in drei Kühlschränken verteilten Lebensmitteln etwa 1/3 als verdorben entsorgt werden musste – von Angehörigen, um ihn davor zu schützen. Arzneimittel, vom Arzt für drei Monate bemessen, waren nach zwei Monaten aufgebraucht, so dass die Vergabe durch eine häusliche Krankenpflege organisiert werden musste.

Dann ließ das Interesse an eigener Körperpflege und Bekleidungswechsel nach, zunächst dezente und dann immer deutlichere Hinweise darauf wurden ignoriert. Dazu trat auch eine Inkontinenz auf.

Erst nach monatelangem Zureden ließ er an sich die Hilfe zu, die auf Basis der schon Jahre zuvor festgestellten Pflegebedürftigkeit (Stufe I) nötig ist. Nach einer zunächst stundenweise ambulanten Versorgung lebt nun eine Hilfskraft bei ihm mit im Haus und sichert Haushaltsführung, Körperpflege und Ernährung.

Wieviel er von der Welt noch wahrnimmt, ist schwer einzuschätzen. Fatalistische Äußerungen und das ehedem ständige Lamentieren sind jedenfalls passé, das Wesen erscheint entspannt und freundlich, Fragen nach dem Befinden werden stets mit „gut“ beantwortet. Auch die Entrümpelung des Anwesens (allein um die 4 Tonnen Altmetall in Kellern, 2 Garagen und Garten) wird klaglos hingenommen.

Udo Slawiczek

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