Variablen setzten Beginn
Münster. Am heutigen 9. Oktober 2020 jährt sich der rechtsterroristische Anschlag von zum ersten Mal. Tags zuvor haben das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Münster, das Jugendbündnis gegen Antisemitismus Münster und die Jüdische Gemeinde Münster zu einer Gedenkmahnwache vor den Friedenssaal in Münster eingeladen.
Vor einem Jahr, am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, griff ein Rechtsterrorist in einem antisemitischen und rassistischen Terroranschlag die Synagoge in Halle an. Später einen Kiez-Döner. Bei dem Anschlag wurden Jana L. und Kevin S. ermordet, zwei Menschen wurden schwer verletzt, weitere 52 Menschen, die sich zum Gebet an Jom Kippur in der Synagoge versammelt hatten, entkamen dem Täter nur knapp. Die Jüdische Gemeinde in Halle entging nur knapp einem Blutbad. Die 52 Besucher*innen der Synagoge überlebten nur dank „des Selbstschutzes der Jüdischen Gemeinde Halle in Form einer massiven Holztür, nicht aber den staatlichen Behörden“. Denn: Polizeischutz wurde der Gemeinde von der örtlichen Polizei verwehrt.
„Es geht auch um unsere Demokratie, unsere Grundrechte, unsere Freiheit“
So sehr die mangelnde Polizeipräsens vor der jüdischen Gemeinde kritisiert wird, wird eben auch kritisiert, dass überhaupt Polizeipräsens nötig ist.
Sharon Fehr von der jüdischen Gemeinde in Münster führt demensprechend aus: „Liebe Freunde, es ist alarmierend und traurig zugleich, dass unsere jüdischen Einrichtungen immer strenger bewacht werden müssen. Leider ist es nur durch Polizeipräsens möglich, dass unsere Kinder sicher zur Schule, zum Religionsunterricht oder wir am Shabbat zum Gottesdienst gehen können“.
Er kritisiert, dass dies „ein hohes Maß an Unsicherheit, an Verunsicherung“ beinhaltet. „Der stetig ansteigende Antisemitismus, Rassismus, die zunehmende Hasskriminalität und wachsende Gefahr durch den Rechtsterrorismus verstärken das Gefühl höchster Verunsicherung. Freunde in Israel sagen mir: Früher habt ihr in Deutschland Angst gehabt, Eure Kinder zu uns zu schicken. Heute haben wir Angst, unsere Kinder nach Deutschland zu schicken. Und ein jüdischer Freund sagte mir noch vor wenigen Tagen den Satz: ‚Die Koffer sind ausgepackt‘ – das gilt zwar weiterhin, aber einige schauen bereits nach, wo ihre leeren Koffer stehen“.
Deshalb ruft er dazu auf, „nicht dazu schweigen“! Es dürfe nicht dazu geschwiegen werden, wenn „politisch zynisch kalkulierte Brandstiftung unsere Gesellschaft verunsicher[t]“, wenn „Menschen ihre Würde und ihre Rechte abgesprochen werden“ und wenn „jüdische Bürger*innen aufgrund ihrer jüdischen Religion bespuckt, beleidigt, körperlich drangsaliert, eingeschüchtert und bedrängt werden“. Niemand, „gleich welcher Herkunft, welcher Hautfarbe, welcher Sprache und welcher Religion sollte Angst haben und überlegen müssen, das Land verlassen zu wollen“.
„Gemeinsam“ müsse die Stimme erhoben werden „gegen die spalterische Hetze von Antisemiten, Rassisten und Rechtspopulisten“. Beides, Antisemitismus und Rassismus könne „nicht nur mit Worten, sondern müssen auch mit Taten wirksam bekämpft werden“, so Sharon Fehr.
Und er fordert auf: „Bieten wir den Nationalisten, Populisten, Faschisten, Rassisten und Antisemiten die Stirn und zeigen wir ihnen, dass wir mehr sind und nie aufhören werden, uns für eine Gesellschaft einzusetzen, in der es nicht Angst machen muss, anders zu sein. Lassen Sie uns als Gesellschaft zusammenstehen und zerstörerischen Tendenzen der Rassisten und Antisemiten, entschlossen entgegentreten“.
Denn: „Bei diesem Kampf geht es nicht nur um uns Juden. Es geht auch um unsere Demokratie, unsere Grundrechte, unsere Freiheit als Bürgerinnen und Bürger“!
„Sorgen wir dafür, dass der Schwur ‚Nie wieder‘ nicht länger bloße Phrase bleibt, sondern mit Taten zu seiner eigenen Wahrheit gebracht wird!“
Die beiden Vertreter des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Münster beginnen mit einem Zitat: „Wir haben die Tür zum Gebetsraum mit Stühlen verbarrikadiert. Wir waren bereit, zu kämpfen“. Und sie konstatieren: „Worte, die auch ein Jahr nach dem Anschlag von Halle Schrecken hervorrufen und schockieren. Doch der Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019, an Jom Kippur war keine Überraschung“. Denn die jüngsten antisemitischen Angriffe zeigen die „antisemitische Normalität in Deutschland“, so das Junge Forum: „Ruben Gerczikow vom Vorstand der JSUD, der Jüdischen Studierendenunion Deutschland stellte treffend fest: ‚Als jüdische Einrichtung trägt man immer ein Fadenkreuz auf der Fassade – und als jüdischer Mensch auf der Stirn‘“.
Und sie zählen die Angriffe auf: „In der Nacht von Donnerstag auf Freitag letzte Woche wurde die Mesuah an einer Synagoge ein Berlin mit Hakenkreuzen geschändet. Am Samstag wurde bei einer Demonstration in Frankfurt am Main, die sich vorgeblich für Flüchtlinge einsetzte, mit den Rufen ‚Yallah Intifada‘ und ‚Vom Jordan bis zum Mittelmeer – ein befreites Palästina!‘ von linker und muslimischer Seite zur Vernichtung Israels aufgerufen. Am Sonntag wurde ein Kippa-tragender jüdischer Student in Hamburg vor der Synagoge auf dem Weg zum Laubhüttenfest Sukkot attackiert und schwer verletzt“.
Auch sie kritisieren, dass immer noch jüdischen Gemeinden der Schutz verwehrt werde: „Doch vor einigen Jüdischen Gemeinden steht weiterhin kein Polizeischutz, obwohl diese Gemeinden Polizeischutz erbitten“.
Und sie kritisieren, dass von konservativer Seite weiterhin eine Opfer-Täter-Umkehr erfolge: So habe der Innenminister Sachsen-Anhalts, Holger Stahlknecht, Jüdinnen und Juden in Deutschland implizit die Schuld dafür gegeben, „dass sich die Polizei um die Belange der übrigen Bevölkerung nicht mehr angemessen kümmern könne, wenn diese in den Schutz jüdischer Einrichtungen eingebunden sei“.
„Es ist aber NICHT die Schuld von Jüdinnen und Juden, dass Polizeischutz nötig ist, um diese vor der antisemitischen Bevölkerung dieses Landes zu schützen. Holger Stahlknecht betreibt damit eine Täter-Opfer-Umkehr, die beinahe an die alte Mär, die Juden seien selber Schuld am Antisemitismus erinnert. Selbiger Innenminister verteidigte schon letztes Jahr nach dem Anschlag die Polizeiarbeit in Halle und wollte keine Fehler zugeben. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat nun richtigerweise seinen Rücktritt nahegelegt“. So die beiden Vertreter des Jungen Forums und kritisieren die desaströse Polizeiarbeit zum Terroranschlag in Halle.
Und sie ziehen das Fazit: „Deutschland hat im Kampf gegen den Antisemitismus versagt, daran hat sich auch seit Halle nichts geändert. Bis heute hat unsere Gesellschaft es versäumt, jüdische Einrichtungen adäquat zu schützen und Hass auf Juden einzugrenzen. Stattdessen überlässt sie die Gefahrenabwehr den Gemeinden weitgehend selbst. Das ist skandalös. Dass jüdisches Leben in Deutschland nicht ohne Polizeischutz möglich ist und selbst mit Polizeischutz nicht wirklich sicher ist, ist skandalös. Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe“.
Deshalb sei gefordert: „Toleranzappelle, Sinnsprüche und Gedenkveranstaltungen sind für die Momente der Wut und der Trauer heilsam und notwendig. Sie sind ein Solidaritätszeichen für alle Jüdinnen und Juden. Aber dabei allein darf es nicht bleiben. Es braucht endlich eine breite gesellschaftliche Bewegung, die entschlossen und geschlossen steht: Gegen jeden Antisemitismus. Immer. Überall. Mit allen notwendigen Mitteln. Der dringend notwendige Schutz jüdischer Einrichtungen ist aber nur die Bekämpfung von Symptomen. Es gilt, die tiefergehenden Ursachen zu bekämpfen […] Sorgen wir dafür, dass der Schwur ‚Nie wieder‘ nicht länger bloße Phrase bleibt, sondern mit Taten zu seiner eigenen Wahrheit gebracht wird!“.
Aber die beiden Vertreter des Jungen Forums enden aber auch mit diesen Worten eines Mitglieds der Jüdischen Gemeinde in Halle, die nach der Evakuierung der Synagoge gefallen sind: „Im Bus auf der Fahrt ins Hotel haben wir dann auch gefeiert: Das Leben, unser Überleben, das jüdische Volk. Am Israel Chai!“
Zum Ende wurde der Opfer des antisemitischen Anschlags gedacht und Kerzen auf der Treppe zum Friedenssaal im historischen Rathaus angezündet.
9 Gedanken zu „Kein Vergessen: Gedenken an den Anschlag von Halle“
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