Gewaltbilder: Schauen und Strafen

Was machen Gewaltbilder mit uns? Was sehen wir in ihnen? Dr. Linda Hentschel, Professorin für Kunstbezogene Theorie an der Kunsthochschule Mainz, beschäftigt sich in ihren beiden Bänden „Schauen und Bestrafen. Nach 9/11″ und „Schauen und Strafen. Gegen Lynchen“ intensiv mit unseren Betrachtungsweisen von Gewaltdarstellungen, den politisch vermittelten Botschaften, dem Nicht-Wahrgenommenen und dem „Bild hinter dem Bild“ – und unserer Sehverantwortung. Weiter hier!

 Darstellung nackter Gewalt

Für Linda Hentschel sind extreme Gewaltdarstellungen Gegenstand ihrer Betrachtung. In der Ankündigung des Kadmos-Verlages heißt es: „Dafür verknüpft die Autorin in je einzelnen Kapiteln philosophische Positionen zu Macht, Gewalt und Kritik von Jacques Derrida, Michel Foucault, Judith Butler, Emmanuel Levinas und anderen mit aktuellen Kunst- und Bildtheorien zu Kriegsdarstellungen. In Zeiten, in denen Menschen gefoltert, vergewaltigt, enthauptet, erschossen werden, damit Bilder davon zirkulieren und Karikaturen Leben kosten, steht eine Ethik des Visuellen im Zentrum der Diskussionen um politische Handlungsfähigkeit.“ Von einer offiziellen Bildsicht – wie in vielen Fällen des „embedded journalism“ – will sie sich nicht diktieren lassen.

Hentschel interessiert, „wie Betrachterinnen jenseits naiver Schaulust und neoliberalem Anything-goes, aber auch jenseits autoritärer Zensur und moralisierendem Blickverbot eine verantwortungsvolle Positionierung im Angesicht ästhetischer und ethischer Erniedrigung einnehmen können“, ihre Arbeit dreht sich „um Techniken des Schauens, um den Willen nach visuellem Wissen und seinen ethischen Tücken“, um damit „nackter Gewalt etwas entgegenzusetzen und visuellen Widerstand zu leisten“. Das Buch eröffnet eine komplexe Perspektive auf das Gewaltgeschehen und ist zweifelsohne politisch und parteiergreifend.

Schauen und Bestrafen. Nach 9/11

Aus ihren Beispielen soll das von Lynndie England angeführt werden. Sie war Tochter eines Arbeiters, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen in einer Wohnwagensiedlung und wurde Special Commander der 372. US-Militärpolizeitruppe. Mit Waffen ausgestattet und mit der „in souveräner Autorität ermächtigten Gewalt“ (Derrida) des demokratischen Staates, mit „dem Recht auf Überlegenheit“ und „weißer Dominanzkultur“ wurde sie „im Kampf gegen den Schurkenstatt“ im US-amerikanischen Foltergefängis Abu Ghraib eingesetzt. Doch „Im Kern, so Derrida, ist jeder Staat schurkisch, weil er in der Tendenz das tut, was er Schurken vorwirft“ (Hentschel). Nämlich dass „man jemand als etwas behandelt, betrachtet, benutzt, erniedrigt, um ihn im äußersten Falle zu vernichten“ (Bernhard Waldenfels).

Englands trophäenhaft veröffentlichten Fotos gingen 2004 als Darstellung grauenhafter Bildgemetzel um die Welt, denn „der Gewalttätige will seine Brandmarke dort sehen, wo er Gewalt angewendet hat, und Gewalt besteht eben darin, eine solche Marke zu hinterlassen“ (Jean-Luc Nancy).

Zum Teil war sie mit dem Soldaten Charles Graner abgelichtet, mit dem sie liiert war und von dem sie ein Kind hatte. In einer der Fotografien hielt sie eine Hundeleine, an der sie einen nackten, zusammengebrochenen irakischen Gefangenen wie einen Hund hielt. Ein weiteres Foto mit extrem sexualisierter Gewalt erschütterte die Menschen, auf dem irakische Gefangene nackt an einer Wand aufgestellt und zur Masturbation gezwungen wurden. Dabei zielte sie feixend, mit Zigarette im Mundwinkel und mit einer zur Waffe geformter Hände triumphalisch auf die Genitalien der entwürdigten Menschen.

Mit Charles Graner ließ sie sich – grinsend – ablichten, wie man irakische Gefangene wie auf einem Müllhaufen, als „menschliche Pyramide“ übereinander geschichtet hatte. Extrem demütigend waren diese Folterungen für die irakischen Häftlinge. Nackt unter Männern, vor einer Frau und hämischen, z.T. homophoben Befehlen ausgeliefert zu sein…“ (Hentschel).

Zwischen Abscheu und Faszination

Offenbar fand eine gewisse Gewöhnung bei den Folterungen statt. „Das Lachen der einen steigerte sich mit den Misshandlungen der anderen. Folter ist ein Austausch von Lebendigkeit, denn in dem Maße, in dem das Leben aus den Gefolterten weicht, geht es als Rausch in die Folterer ein“ (Klaus Theweleit). Gewalt scheint die Bilder zu brauchen und „Gewalt scheint unsere Bildphantasien, zu nähren“ (Urs Stahel). Dabei entsteht die Gefahr, „dass Folterer und die Betrachter der Fotografien in der gleichen Bildwelt und damit innerhalb der gleichen Kultur operieren“ (Karin Harrasser). Gefährlich ist für Hentschel zudem, dass man sich durch eine Verweigerung des Gesehenen unfreiwillig „zum Komplizen konservativer, nationalistischer und autoritärer Stimmen“ machen könne.

Das macht die Betrachtung von Gewaltbildern so heimtückisch und gefährlich, dieses Betrachten zwischen Abscheu und Faszination. Betrachterreaktionen von „Schrecken, Abscheu, der Wunsch wegzuschauen auf der einen Seite und auf der anderen – aber seltener thematisiert – Schaulust, Voyeurismus, der Wille zum Sehen“ (Wolfgang Sofsky). Für Hentschel war es auch kein Zufall, dass manche Darstellungen zur Ikone erklärt wurden, andere hingegen für die öffentliche Wahrnehmung als „a few bad apples“ entfernt wurden.

England und Graner hätten für diese abscheuliche Folter durchaus 38 Jahre Haft erwarten können. England wurde nach mehreren Verfahren zu 3 Jahren verurteilt und kam unter Bewährungsauflagen nach 571 Tagen frei. Bis heute hat England ihre Taten nicht bereut und gab 2009 an, noch 800 weitere vergleichbare Fotos zu besitzen, mit der sie „der US-Armee sehr schaden könne“ (England).

Linda Hentschel stellt an ihre Leserinnen und Leser einige Herausforderungen. Diese Hürde einmal überwunden, verhilft sie, mit sehr überlegten Fallstudien und detaillierten Beschreibungen, zahlreichen Nachweisen und historischer Genauigkeit in tiefe Betrachtungen von Gewaltbildern einzutauchen und sie zu entschlüsseln. Anhand der hier beigefügten Bildbeispiele kann jeder denken und fühlen, was diese Bilder bei der Betrachtung mit ihm bzw. ihr anstellen. Hentschel fordert dazu auf, die in Photografien hineininterpretierten Phantasien zu verlassen und die Bedingungen der Hintergründe und Existenzbedingungen zu berücksichtigen.

Schauen und Strafen. Gegen Lynchen

Wir erinnern uns, wie der US-Amerikaner George Perry Floyd am 25. Mai 2020 durch unbegründete Polizeigewalt dadurch ums Leben kam, dass ein Polizist auf seinem Hals kniete und von ihm – der um Gnade flehte – in 8:46 Minuten erstickt wurde. Darauf zog eine Welle des – teilst gewaltsamen – Protestes gegen Polizeigewalt und Rassismus unter dem Motto „Black Lives Matter“ bis heute nicht nur durch die USA. Die Bildarchive sind inzwischen voll von Dokumenten darüber. Der Vorfall weist zudem auf ein historisches und ein systemisches Problem in den USA hin.

Linda Hentschel beschäftigt sich in ihrem 2. Band „Schauen und Strafen. Gegen Lynchen“ mit der historischen Lynchfotografie in den USA zwischen 1880 und 1950. Erweitert wird die Form rassistischer Fotografie „als integraler Bestandteil der visuellen Kultur in den USA des späten 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts“. Anstoß für diesen Band war für Linda Hentschel die Auseinandersetzung mit den Folterereignissen in Abu Ghraib. Für sie waren damit „unheimliche Wiedergänger in der visuellen Kultur unterwegs“.

Die Fotografien sind ebenso erschütternd wie die aus Abu Ghraib. Wie die über das Schicksals des farbigen, 17jährigen Jesse Washington, „der 1916 vor den Augen von 15.000 weißen Frauen, Männern und Kindern erst verbrannt und dessen Leiche dann öffentlich aufgehängt wurde.“

Für Hentschel sollten die Bilder „Bestandteil einer fundamentalen visuellen Kritik an weißen Herrschaftsspektakeln sein“. „Mit dem Blick auf die visuelle Kultur der Lynchschauen und ihrem Nachleben in der Gegenwart wollte ich den historischen Rahmen dieses ‚Unbehagens‘ wieder präsenter werden lassen“, schreibt sie und fordert dazu auf, Gewaltbilder kritisch zu sehen und massive Zweifel an den ästhetischen Bildregimen aufkommen zu lassen.

Ein Vorschlag am Schluss

Wie nie zuvor unterliegen Bilder im Existenzkampf der Medienschaffenden dem kapitalistischen Verwertungsinteresse. 1969 schrieb Berthold Beiler in seinem Werk „Die Gewalt des Augenblicks“: „Wer mit seinen Fotos herausragen will, muss zu extremen Mitteln greifen“, und damit werden Bildschaffende mit ihren Kameras auch zu „Experten der Grausamkeit“ (Susan Sontag). Heute muss man ergänzen: Um im hysterischen Hype der modernen Bilderflut, und in diesem Sinne auch „abfallproduzierenden Überfluss“, der „Konzentration auf Scherben, Plunder und Kuriositäten aller Art“ (Susan Sontag) noch wahrgenommen zu werden.

Es existieren in dieser Gesellschaft auch andere Gewaltbilder – jenseits der beschriebenen Gewaltorgien. Macht es nicht auch Sinn, sich mit der „Fotografie als Waffe“, als „politischer Waffe“ zur Aufzeigung gesellschaftlicher Missstände auseinanderzusetzen, entweder mit dem Ziel politisch-appelativem Charakters oder andererseits beispielsweise als „Bettlerfotografie“ und damit als „Rührstück für die Tränendrüsen menschenfreundlicher Bürgerlicher“ (Roland Günter). Nach Walter Benjamin sei die Kamera doch unfähig, „ein Mietshaus, einen Abfallhaufen oder gar einen Staudamm oder eine Kabelfabrik zu fotografieren, ohne ihren Gegenstand zu verklären“. Sie könne „tiefste Armut auf eine modische, technisch perfekte Weise zu einem Gegenstand des Genusses machen.“ Das wäre – um mit Susan Sontag zu argumentieren – „eine Verwirrung des Realen“, und nachgerade eine Vergewaltigung der Realität und somit Gewalt. Um auf aktueller Ebene zu bleiben, könnte man sich noch einen dritten Band von Linda Hentschel wünschen: „Schauen und Strafen. Bilder alltäglicher gesellschaftlicher Gewalt“. (06.04.2021, Hans-Dieter Hey)

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Linda Hentschel: Schauen und Strafen. Nach 9/11
1. Band

Herausgeber : Kulturverlag Kadmos; 1. Edition (22. Februar 2021)
Sprache : Deutsch
Broschiert : 192 Seiten
ISBN-10 : 3865994245
ISBN-13 : 978-3865994240
19,90 EURO

Linda Hentschel: Schauen und Strafen. Gegen Lynchen
2. Band

Herausgeber : Kulturverlag Kadmos; 1. Edition (22. Februar 2021)
Sprache : Deutsch
Broschiert : 192 Seiten
ISBN-10 : 3865994245
ISBN-13 : 978-3865994240
19,90 EURO

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