Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome 1938

Münster. Am Abend des 9. November 2020 versammelten sich circa 80 Menschen auf Münsters Domplatz den Opfern der Novemberpogrome von 1938 zu gedenken. Eingeladen hatten das Jugendbündnis gegen Antisemitismus und das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Münster.

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Denn, wie das Jugendbündnis gegen Antisemitismus berichtet, fand auch in Münster ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung statt:

In der Nacht vom 9. auf den 10. November vor 82 Jahren gab es in Münster, wie in ganz Deutschland ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung. Um 23:30 kam eine Anweisung aus München, jüdische Menschen und Einrichtungen anzugreifen. Dieses Pogrom sollten als spontane Aktion aus dem „Volk“ heraus inszeniert werden. Kurz nach dem Eintreffen der Anweisung begannen SA- und SS-Männer – größtenteils in zivil – in der Synagoge Brände zu legen und das Inventar zu zerstören.

Die Feuerwehr traf etwa um Mitternacht an der Synagoge an, um diese zu löschen. Allerdings wurde sie von einem aufgeheizten Mob daran gehindert, einige Feuerwehrmänner wurden verprügelt oder bedroht. Die Feuerwehr verließ die noch immer brennende Synagoge wieder. Von der Polizei wurde sie über eine weitere Anweisung aus München darüber informiert, dass die Synagogen nicht gelöscht und lediglich die benachbarten Gebäude geschützt werden dürften, was die Feuerwehr dann auch tat.

Ebenso sind jüdische Geschäfte, Wohnungen von Einsatztruppen von SA und SS überfallen und geplündert worden, Jüdinnen und Juden wurden verprügelt. Die Münsteraner Bevölkerung reagierten mit Gleichgültigkeit und Passivität. Die Plünderungen und Gewalttaten dauerten den ganzen 10. November an, so das Jugendbündnis.

Das Jugendbündnis zitierte in ihrer Rede der Rabbiner der jüdischen Gemeinde, Fritz Steinthal:

Mit Eisenstangen erbrach die Menge die schwere Haustür aus Eichenholz und strömte ins Gebäude. […] ich selbst ging mit meiner Frau in den Bodenraum. Dort hörten wir, wie die Eindringlinge wie die Vandalen hausten. Etwas sahen wir, als wir hinuntergingen; die eigentlichen Schäden konnten wir erst später feststellen. Büfet, Anrichte, Küchenschrank waren umgeworfen, so daß das darin befindliche Porzellan, Kristallglas zerbrechen mußten; Bilder, Sofa, Sessel zerschnitten, Möbel mit Stemmeisen und dergleichen ruiniert; Silber, Bücher gestohlen und zum Teil aus dem Fenster geworfen, Geld aus dem Schreibtisch geraubt, Türen eingeschlagen und zerbrochen.

Das Jugendbündnis fasst die Ereignisse in Münster zusammen:

40 jüdische Männer wurden verhaftet darunter auch der Rabbiner Fritz Steinthal. Die Synagoge brannte in der Nacht vollständig aus. Die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung begann, dazu wurden 14 sogenannte ‚Judenhäuser‘ eingerichtet. Die Opfer des Pogroms mussten für die Schäden aufkommen, die Beseitigung der Ruine der Synagoge etwa musste die Gemeinde bezahlen.

Insgesamt wurden in Deutschland 1.400 Synagogen angezündet, Tausende jüdische Geschäfte und Friedhöfe wurden zerstört, 400 Jüd*innen ermordet und 30.000 Jüd*innen in Konzentrationslager deportiert. Aber die Pogromnacht war nur ein weiterer Meilenstein in der mörderischen NS-Politik: Insgesamt ermordeten die Nazis und deren Unterstützer*innen während der Shoah über 6 Millionen Jüd*innen. Während das NS-Regime antisemitische Propaganda verbreitete, Jüd*innen entrechtete und ermordete, „konnte dieses Regime sich der passiven und aktiven Unterstützung der deutschen Zivilgesellschaft immer sicher sein“, so das Jugendbündnis.

Das Jugendbündnis zieht aus diesen Erfahrungen heraus die Forderung, dass

ein Staat und eine Gesellschaft die Verbrechen der Shoah begangen haben, ziehen wir die Konsequenz, dass Staat und Gesellschaft heute in der Verantwortung stehen, dass das nie wieder passiert. Dazu gehört das Gedenken, Schutz jüdischen Lebens und der Kampf gegen jeden Antisemitismus.

Und sie kritisieren den heute wieder grassierenden Antisemitismus. Antisemitismus sei mit der Niederlage des Nationalsozialismus nicht verschwunden, so das Bündnis. Sie beschreiben exemplarisch den antisemitischen Anschlag von Halle:

Antisemitische Anschläge, wie der in Halle vergangenes Jahr, verdeutlichen mit Nachdruck die Aktualität des Kampfes gegen Antisemitismus. In Halle war es nur eine Tür, die ein Massaker in der Synagoge verhinderte. Die Polizei, die im Vorfeld der Bitte der jüdischen Gemeinde um einen stärkeren Schutz nicht nachgekommen war, traf viel zu spät am Ort des Geschehens ein. Und, wie im Halle Prozess deutlich wurde: die Polizeibeamt*innen verhielten sich gegenüber den Menschen in der Synagoge äußerst rücksichtslos. So wurde ihnen zunächst die Mitnahme koscherer Speisen und Getränke ins Krankenhaus verweigert, und das Abschlussgebet zu Jom Kippur von einem Beamten unterbrochen, der zwei Personen zur Vernehmung bringen wollte.

Doch der Antisemitismus fange auch früher an: Antisemitismus fange nicht erst beim Mord oder beim Massenmord an. Dies sei ein Missverständnis, das in Deutschland sehr verbreitet sei. Und das führe oft „zu dem seltsamen, oft gehörten Vorwurf, jemand, der*die Antisemitismus kritisiert, verharmlose damit den Holocaust“.

Das Bündnis zitiert Adorno:

Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.

und sieht darin den Kern des Antisemitismus in einem Satz zusammengefasst. Antisemitismus fange natürlich beim Vorurteil und Ressentiment über Jüd*innen an. Dabei kritisierten sie, dass der heutige Antisemitismus oft auf Umwegkommunikation zurückgreife und in „allen Klassen, in allen politischen Spektren, und […] gerade in der bürgerlichen Mitte stark verbreitet“ ist.

Abschließend appellierte das Jugendbündnis:

Der Kampf gegen den Antisemitismus ist ein Kampf gegen jede Form des Antisemitismus. Ob es nun rechter Antisemitismus ist, bürgerlicher, linker, muslimischer oder israelbezogener Antisemitismus.

Der Antisemitismus ist nicht verschwunden, er verändert beständig seine Form, um sich den aktuellen Gegebenheiten anzupassen und ist doch im Kern derselbe. Im Gedenken an die Opfer von damals gilt es deswegen, sich heute entschieden jedem Antisemitismus entgegen zu stellen.

Wir sind also hier um zu sagen: Erinnern heißt Handeln und das gegen jeden Antisemitismus!

„Wir bemächtigen uns der Erinnerung, um Kraft aus ihr zu schöpfen“

Anschließend hoben die beiden jüdischen Journalisten Ruben Gerczikow, Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) und Vizepräsident der European Union of Jewish Students (EUJS), und Monty Ott, Doktorand zu queer-jüdischem Leben, von der Laumer Lounge, einem aktivistischen jüdischen Medienprojekt, den jüdischen Widerstand gegen das faschistische Regime am Beispiel Herschel Grynszpans in einer Videobotschaft hervor:

Herschel Feibel Grynszpan emigrierte 1935 aufgrund des zunehmenden Antisemitismus nach Frankreich. Im November 1938 wurde die Familie Grynszpan mit knapp 17.000 weiteren polnischen Jüd:innen unter menschenunwürdigen Umständen aus dem Deutschen Reich abgeschoben. Die antisemitische Politik des NS-Regimes, die Demütigungen und die Empörung über die Deportation seiner Familie ließen Grynzspan einen Entschluss fassen. Am 07. November 1938 schoss er in der deutschen Botschaft auf den Legationssekretär Ernst vom Rath. Die letzten Worte, die das NSDAP-Mitglied vom Rath an diesem Tag angeblich hörte: „Sie sind ein sale boche! Im Namen von Tausenden Juden übergebe ich hiermit die Dokumente!“ Das NS-Regime ließ vom Rath wahrscheinlich sterben, um den Plan für die Novemberpogrome in die Tat umzusetzen.

Sie wollen sich damit „einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt”:

Wir bemächtigen uns der Erinnerung, um Kraft aus ihr zu schöpfen. Kraft für die Kämpfe, die wir und alle anderen Jüd*innen und marginalisierten Gruppen in dieser Gesellschaft tagtäglich führen. Doch wir glorifizieren weder Gewalt noch Terrorismus. Es geht darum, Grynszpan dem Schleier der Geschichte zu entreißen und damit Gewohnheiten deutscher Erinnerungsabwehr zu irritieren, Erzählungen jüdischer Widerständigkeit in den Diskurs eintreten zu lassen und so Raum für Teilhabe und Sichtbarkeit jüdischer Vielfältigkeit zu eröffnen.

„Deutschland nicht einfach nach rechts abdriften lassen“

Auch Sharon Fehr, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Münster, erinnerte an die Gräuel der Pogromnacht und beschreibt die folgende Zeit als eine Zeit der Diskriminierung:

In der Folge des 9. November hatten die Nazis trotz internationaler Proteste jede Hemmung verloren.

Juden durften weder an Theater- noch sonstigen Kulturveranstaltungen teilnehmen: Sie durften weder öffentliche Verkehrsmittel benutzen noch ein Telefon haben.

Jüdische Schüler wurden aus den Schulen verbannt. Auch das Paddeln auf der Aa war Ihnen untersagt worden.

Die Juden durften nur in bestimmten Geschäften außerhalb der üblichen Öffnungszeiten einkaufen.

Ihre Lebensmittelrationen wurden drastisch gekürzt.

Sie durften weder Krankenhäuser betreten noch Zeitungen, Zeitschriften, Bücher oder bestimmte Lebensmittel kaufen.

Juden sollten aus dem Straßenbild verschwinden und ab dem 1. September 1939 mussten sie den gelben „Judenstern“ tragen, Erwachsene und Kinder ab sechs Jahren.

[…]

Nach den Verbrechen am 9. November 1938 konnte das faschistische Regime sicher sein, dass auch bei noch größerer Gewalt gegen Juden die Bürger schweigen und sich nicht in den Weg stellen würden.

Deshalb ist Sharon Fehr sich auch sicher:

Wer später behauptete, er habe von allem nichts gewusst, der lügt. Und das war in den Nachkriegsjahren durchaus üblich.

Nicht sicher ist er, ob es heute anders wäre: Denn damals konnten die Nazis sicher sein, „dass auch bei noch größerer Gewalt gegen Juden die Bürger schweigen und sich nicht in den Weg stellen würden.“ Es habe nur sehr wenige Menschen, die Anstand und Mut bewiesen.

Und er fragte sich in seiner Gedenkansprache, „ob das heute viel anders wäre?“

Und weiter „Wir können uns diese Frage durchaus auch heute stellen. Denn wir haben es wieder mit Brandstiftern zu tun“. Dabei erinnert er an vier Bilder, die sich im vergangenen Jahr in sein Gedächtnis eingebrannt haben:

  • Er erinnert an den rechtsextremistischen Terroranschlag an Jom Kippur auf die Synagoge in Halle. Und erinnerte daran, dass nur eine „scheinbar einfache Holztür“ das Unheil verhinderte und standhielt.
  • Er erinnert an die grölende Menge rechtsextremer Pöbler*innen Ende August, die mit Reichsflaggen den Reichstag in Berlin stürmen wollten: „Dieses Bild weckt – mit Blick in die Deutsche Geschichte – in uns dunkelste Erinnerungen, als die NSDAP den Reichstag anzünden ließ, um nach dem Brand alle wesentlichen Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft zu setzen“.
  • Er erinnerte an den Angriff eines Rechtsextremisten mit einem Klappspaten auf einen Hamburger jüdischen Studenten am 4. Oktober während des 2. Festtages des Laubhüttenfestes, der auf dem Weg zur Synagoge in Hamburg war.
  • Und er erinnert an die Verschwörungserzähler*innen und Corona-Leugner*innen, die den Judenstern für ihre Propaganda gegen die derzeitige Maskenpflicht missbrauchen und damit den Holocaust relativieren: „Die Analogie zum Judenstern und das Tragen gestreifter Häftlingskleidung auf Demonstrationen der Impfgegner, der Corona-Leugner und Verschwörungserzähler ist pietätlos und wird von uns als zu tiefst geschmacklos empfunden. Damit werden Opfer des Holocaust und dessen Angehörige vereinnahmt und verhöhnt“, so Sharon Fehr und fordert ein Verbot des Missbrauchs der Judensterne.

Deshalb fordert er:

Ein Selbstläufer ist unsere Demokratie nicht. Wir müssen etwas dafür tun.

Sowohl die nachwachsenden Generationen als auch die Menschen aus anderen Kulturen und politischen Systemen, die zu uns kommen, können nur überzeugte Demokraten werden, wenn wir es ihnen auch vorleben.

Er ist aber auch zuversichtlich:

Sie sind es, liebe Freunde, die sich hier heute Abend versammelt haben, die Deutschland nicht einfach nach rechts abdriften lassen. Sie kämpfen mit uns für den Fortbestand eines demokratischen, eines bunten weltoffenen und interkulturellen wie interreligiösen Konsens in unserer Gesellschaft. Das macht uns Mut und gibt mir Zuversicht.

Die Gedenkveranstaltung wurde mit einer Gedenkminute beendet.

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