Für die Zukunft neu zusammengedacht: Tiefrot und radikal bunt


Variablen setzten Beginn

Die meisten wissen: So wie bisher kann es nicht weiter gehen. Die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, unserer Umwelt, unseres Gemeinwohls, die kapitalistische Arbeitsteilung, unbezahlbare Wohnungen, Fluchtursachen oder Verkehrschaos fordern grundlegend neue Antworten. Trotz der Erkenntnisse nehmen viele stattdessen den Rückgriff auf das Konservative, den Kapitalismus, Nationalismus und das erfolglose „mehr vom Alten“. Also auf das, was regelmäßig in diese Krisen geführt hat und führt. Daraus folgt zwangsläufig das „Ende der Welt, wie wir sie kennen“ – wie der Weltklimarat 2018 formulierte – und weitere soziale Spaltung, die – einer neuen Untersuchung zufolge – so groß ist wie 1913 nicht mehr. Weiter unten mehr!

Julia Fritzsche stellte am 16. Mai in Hamburg ihr Buch vor, das auf diesen Widerspruch Antworten gibt. Sie ist überzeugt, dass nur eine linke Bewegung aus diesen Krisen führt und zitiert den US-amerikanischen Soziologen Eric Olin Wright, der den Kapitalismus „von innen aushöhlen“ will, um die Gesellschaft wieder demokratisch zu ermächtigen. „Die neue Gesellschaft wächst in der alten heran“, schrieb der 2018 leider verstorbene Kapitalismuskritiker Elmar Altvater. Beweis dafür liefern beispielsweise viele Bewegungen wie „Care Revolution“, „Buen vivir“, „Solidarische Stadt“, „Gemeinwohlökonomie“, „Commons-Gemeinschaften“, „Degrowth“, „Postwachstum“ oder „queer“.

Zur Migrationsproblematik findet sie, sei „No Borders“ kein guter Begriff, „wir sollten es so nicht nennen, sondern globale Freizügigkeit“. Denn „Was ist schon ein Pass, jeder Mensch an jedem Ort soll die globale Freizügigkeit leben“. Mit dieser positiven und nicht angstbesetzten Forderung werde Konservativen die Argumentation genommen und damit „holen wir uns die Hegemonie zurück“.

Interessant ist, wie sie zu ihrem Buchtitel kommt. Ihre Vorgehensweise im Buch sei klassisch, erläutert sie. „Das Rot ist für die Frage der Ökonomie, dass heißt, wie wollen wir unsere Arbeit aufteilen, wie wollen wir wirtschaften, also die Klassenfrage, kann man auch sagen.“ Radikal bunt ist für Julia Fritzsche, die „Frage kultureller Vielfalt, geschlechtlicher Vielfalt, sexueller Vielfalt“ und es habe „einen hohen Grünanteil, weil es eben auch um ökologische Fragen geht.“

Das Wichtigste an ihrem Buchtitel sei aber das „und“, weil sie glaubt, dass beides nur zusammen gedacht werden kann. „Weil wir Menschengruppen auch ausbeuten und das nur funktioniert, wenn wir sie vorher auch ideologisch ausgrenzen.“  Beispielsweise verdienen Gastarbeiter oder Migranten weniger „weil die bestimmt vom Leben weniger verlangen“. Und: „Frauen können wir schlecht oder gar nicht bezahlen für Fürsorgearbeiten, sie sind das liebende Geschlecht und das liebende Geschlecht wischt gern schmutzige Hintern ab.“ Aber: „Niemand hat uns zu sagen, wie wir leben sollen und wollen! Wen wir lieben wollen und sollen. Niemand hat uns zu sagen, was gut und richtig ist.“

Fritzsche hat die gegenwärtigen Bewegungen in ihrem Buch für eine neue linke Erzählung zusammengeführt. Lebensnah, autentisch, mit fundierten Kenntnissen und für alle verständlich verbindet sie erlebte Geschichten und soziale Kämpfe und beschreibt, wie es diese Entwicklungen einer neuen Gesellschaft real gibt. Vereinzelt, im Kleinen erst. Aber sie sind weltweit zu finden als praktizierte Realität oder zumindest als reale Zukunftsvision. (16.05.2019, Andrea Hackbarth-Rouvel, Hans-Dieter Hey, Fotos: Andrea Hackbarth-Rouvel)

Julia Fritzsche:
Tiefrot und radikal bunt.
Für eine neue linke Erzählung
Broschiert: 192 Seiten
Verlag: Edition Nautilus GmbH; Auflage: Originalveröffentlichung (4. März 2019)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3960541929
ISBN-13: 978-3960541929
Preis: 16.00 Euro

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